Den Vorurteilen getrotzt
Irem Top ist eine von wenigen Frauen in der Schweiz, die eine Ausbildung im Strassenbau absolvieren. Die 19-Jährige verrät, wie es dazu kam und mit welchen Herausforderungen sie sich auf ihrem Berufsweg konfrontiert sah.
Sie ist im dritten Lehrjahr ihrer Ausbildung zur Strassenbauerin EFZ – und in der Branche weit und breit die einzige weibliche Lernende im Kanton Tessin. Davon lässt sich Irem Top allerdings nicht beirren. «Strassenbau ist das, was ich machen will», sagt sie entschlossen.
Von Zähnen zu Strassen
Nach dem Abschluss der Sekundarschule entscheidet sich Irem zunächst für eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin. Doch dann entdeckt sie das Bauwesen. Sie schnuppert einige Berufe aus der Branche – bis sie auf den Strassenbau stösst. Man gab ihr die Möglichkeit, auf einer Baustelle in der Gegend von Lugano ein Praktikum zu machen. «Dabei stellte ich fest, dass mir das Pflastern sehr gefiel – vor allem deshalb, weil ich im Freien arbeiten konnte», erzählt sie. Es ist der Anfang eines steinigen Ausbildungswegs, wie die heute 19-Jährige bald feststellen muss.
«Du lenkst die Arbeiter ab»
Irem Top bewirbt sich bei zahlreichen Baufirmen um einen Ausbildungsplatz – und blitzt überall ab. Der Grund ist immer derselbe: Sie ist eine Frau. Irem erinnert sich: «Man sagte mir, ich würde die männlichen Mitarbeiter ablenken.» Statt ihr eine Chance zu geben, sich zu beweisen, wird sie auf ihr Äusseres reduziert. «Ich war echt frustriert. Menschen sind voller Vorurteile.» Auch ihr Umfeld ist von Anfang an skeptisch, sie stösst auf Widerstand. «Mein Vater war strikt gegen eine Lehre als Strassenbauerin. Er befürchtete, dass ich meine Entscheidung leichtsinnig und nur des Geldes wegen getroffen hatte. Ich wüsste nicht, was es bedeute, auf einer Baustelle zu arbeiten.» Trotzdem: Die junge Frau sucht weiter. Und endlich hat sie Erfolg. «Ich durfte auf einer Baustelle einen Monat lang für Cellere probearbeiten.» Sie über zeugte unseren Standortleiter Nicola Martini in Castione und erhielt die Lehrstelle. «Endlich konnte ich arbeiten!», freut sie sich.
An Muskelmasse zugelegt
Die erste Hürde auf ihrem Karriereweg hatte Irem Top geschafft. Nun galt es, sich in einem Umfeld zu beweisen, das für Frauen weitere gängige Vorurteile bereithält. Eines davon: Frauen eignen sich nicht für ein körperlich anstrengendes Tätigkeitsfeld wie die Baubranche. Irem Top gibt zu: «Mich an die Anstrengung zu gewöhnen, war schwierig. Am Anfang war ich erschöpft. Die ersten Monate kam ich nach Hause, warf mich direkt aufs Bett, schloss die Augen und schlief durch. Auch an den Wochenenden blieb ich oft zu Hause, um mich auszuruhen.» Die Müdigkeit ist inzwischen verschwunden. Dafür hat Irem Top nach zwei Jahren Ausbildung merklich an Muskelmasse zugelegt, weshalb ihr die Arbeit nun leichter fällt. Stolz sagt sie: «Als ich die Lehre begann, wog ich 45 kg, sodass ich viele Dinge nicht einmal heben konnte. Mit der Zeit habe ich Muskeln aufgebaut und so immer mehr geschafft.»
Tochter statt Kollegin
Die körperlichen Anstrengungen hat Irem zum Trotz der Vorurteile gemeistert. Doch wird sie von ihren männlichen Kollegen akzeptiert? «Das Verhältnis zu den anderen Mitarbeitern war anfangs nicht einfach», sagt die Lernende. «Für sie war ich eher Tochter denn Arbeitskollegin.» Oft trauten ihr die Arbeiter Tätigkeiten nicht zu. Um ihr Mühen und Anstrengungen zu ersparen, schickten sie jemand anderes, um Aufgaben zu erledigen. «Ich konnte mich beweisen, indem ich Interesse und grossen Tatendrang zeigte. Heute bin ich ein vollwertiges Teammitglied und werde von schweren Arbeiten nicht mehr verschont», freut sich die Tessinerin. Nach ihrem Lehrabschluss will sie den Führerschein für Baumaschinen machen.
Ein wertvoller Tipp
Irem Top ist dankbar für die Unterstützung, die sie von Cellere und ihren Arbeitskollegen erfuhr: «Wenn ich Hilfe brauchte, war immer jemand da, der mir etwas erklären konnte.» Die Lernende hat die Herausforderungen, die das Berufsfeld des Strassenbauers für sie bereithielt, bewältigt – sie ist genau da, wo sie sein will: «Ich bin zufrieden mit dem Weg, den ich eingeschlagen habe, aber ich lerne noch.» Weil die körperlich strenge Arbeit auf der Baustelle nicht unterschätzt werden sollte, rät Irem Top angehenden Strassenbauerinnen: «Achtet auf eure Mahlzeiten – genug essen und trinken ist enorm wichtig. Ihr braucht Energie für die Arbeit.»
Hier geht’s zum Interview mit Irem auf RSI.
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